Ich weiß nicht einmal, ob ich den Namen dieses Stückchen Landes jemals vorher vernommen hatte. Aber plötzlich, als die Entscheidung näher rückte, die Bewerbungsphase begann, fiel mir dieses GIVE-Prospekt in die Hand. Québec, da spricht man also auch Französisch? Ja, aber ein bisschen „anders“, war die Antwort, die mir gegeben wurde. Anders also. Das wollte ich genauer Wissen und entschied mich kurzerhand für sechs Monate Québec.
Völlig unvorbereitet auf das, was mich auf einem mir neuen Kontinent, in einem mir fremden Land erwarten könnte, kam ich in Montréal an. Zunächst verbrachte ich zehn Tage in der Hauptstadt, um gemeinsam mit anderen Austauschschülern aus der ganzen Welt (vornehmlich Deutschland) die Basics der québecoisen Lebenskultur kennen zu lernen und uns an den neuen Dialekt zu gewöhnen. Québec für Anfänger, sozusagen. Wir verbrachten zehn erlebnisreiche Tage in Montréal und Umgebung: Stadtbesichtigungen, Kanufahren, kleine Unterrichtseinheiten, Aktivitäten mit der Gastfamilie, Besichtigung des Freizeitparks „La Ronde“ und ein abschließendes, großes Fest standen auf unserem Programm. Als wir uns schließlich alle zum Abschied in den Armen lagen, waren wir ernsthaft traurig, dass es schon vorbei war… dabei ging es jetzt erst richtig los!
Wer nicht gleich zu Anfang bei seiner permanenten Gastfamilie gewohnt hatte, der wurde nun endlich dorthin gebracht, wo er den Rest seines Aufenthaltes verbringen sollte. Mich verschlug es in die kleine Stadt Windsor, wo ich bereits ungeduldig erwartet wurde.
Bereits die erste Begegnung mit der neuen Familie war extrem herzlich. Meine Gasteltern waren recht jung, hatten zwei Söhne, die 1 und 5 Jahre alt waren. Wir alle waren neugierig, die Sprache war keine Barriere, wir konnten uns auch mit Händen und Füßen verständigen. Was mit meinem Gastvater auch anfangs nicht selten der Fall war, da er den derbsten Dialekt der ganzen Familie sprach, der später auch Teil meiner Mitbringsel aus Québec nach Deutschland sein sollte.
Dann ging es endlich in die Schule. Ich muss zugeben, dass ich Angst hatte. Davor, dass ich kein Wort verstehe oder dass ich keine Freunde finden würde. Doch schon in den ersten fünf Minuten, die ich im Schulgebäude stand – wartend, vorm Sekretariat, gemeinsam mit Hannah, einer anderen Deutschen Austauschschülerin – wurden diese Ängste systematisch ausgemerzt. Völlig fremde Schüler liefen an uns vorbei, freundlich lächelnd, die uns sogar grüßten. Ich war baff. Und als uns dann ein Trupp von 3 Schülerinnen die Schule zeigte, die alle interessiert nach unserer Herkunft und unseren Motiven für den Austausch fragten, hatte sich jene Angst in Euphorie umgewandelt. Ich wollte in den Unterricht. Mehr von diesen Menschen treffen, mit ihnen in Kontakt treten.
Die ersten Tage konnte ich mich kaum retten vor Leuten, die mit mir reden wollten, mich kennen lernen wollten, mir Fragen stellten. Meine Sprachfähigkeiten sind vermutlich innerhalb von einer Woche von 5 auf 50 % gestiegen. Das fand ich super. Meine Freundinnen in der Schule verbesserten mich anfangs nie. Ich denke, das war ihre Art, mir die Unsicherheit zu nehmen. Erst später, als ich anfing, nachzufragen, wenn ich mir unsicher war, halfen sie mir, mein Wissen zu verfestigen. Die Lehrer waren zum größten Teil ebenso verständnisvoll. Sie wollten mich nicht bewerten, sie wollten mich fördern. Ich war überrascht, wie freundschaftlich die Lehrer-Schüler-Beziehung in meiner Schule war. Man sprach sich mit Vornamen an, aß manchmal gemeinsam zu Mittag, erzählte sich Anekdoten aus dem eigenen Leben.
Vor allem die Mittagspausen waren wichtiger Bestandteil des sozialen Lebens in der Schule. Jeden Tag, von ca. 12 bis 13 Uhr saßen alle SchülerInnen an langen Tischen und Bänken, aßen ihr mitgebrachtes oder dort gekauftes Essen. Eine Stunde Zeit, um zu essen, zu reden, Späße zu treiben und sich für den Abend zu verabreden. Denn um 16 Uhr war die Schule zu Ende. Danach ging es für mich zurück in die Familie.
Hier erlebte ich ein ordentliches Kontrastprogramm zum Schulalltag, der ja eigentlich schon aufregend genug war. Mein kleinster Gastbruder war ordentlich auf Trab, ständig im Begriff, irgendeine Höhe zu erklimmen, irgendwas herunter zu schmeißen oder nach Essen zu suchen. Nicht nur dank meines kleinen, gefräßigen Gastbruders, sondern auch auf Grund unserer allgemeinen Liebe zum Essen, kochten wir regelmäßig zusammen die verschiedensten Gerichte. Mal zauberte ich etwas aus meiner imaginären Rezeptsammlung, ein anderes Mal zeigten mir meine Gasteltern, was québecoise Küche heißt. Für Gerichte wie Pâte Chinoise und Nudeln mit Tomatensaft (!) muss man sich allerdings, genau wie für das berühmte Poutine, nicht zwangsläufig begeistern können. Aber man lernt ja nie aus…
Mit meiner Gastfamilie machte ich die verschiedensten Unternehmungen, der jeweiligen Jahreszeit angepasst. Im Sommer fuhren wir campen, im Herbst stiegen wir auf die wenigen Berge, um die Natur zu bestaunen und im Winter machten wir lange Spaziergänge durch den angrenzenden Wald.
Etwa die Hälfte meines Aufenthaltes in Québec verbrachte ich im Winter dort. Winter in Québec, das heißt: meterhoher Schnee, eisige Temperaturen (mein Rekord: -28°), Schneestürme und alle damit verbundenen Aktivitäten: Ski- und Schlittenfahren oder einfach zu Hause mit Gastgeschwistern und einer heißen Schokolade sitzen und „Passe-Partout“ gucken. Diese alte, québecoise Kindersendung ist unglaublich witzig und vor allem typisch für Québec, bis heute. Die einfache Sprache der Figuren war für mich als Austauschschülern wie gemacht.
Alles in allem kann ich sagen, dass mein Aufenthalt in Québec rundum gelungen war. Da das Leben in so großer Entfernung zur Heimat natürlich auch Schwierigkeiten mit sich bringt, vor allem in der Anfangszeit und zu den Feiertagen, war es für mich immer sehr wichtig, dass meine Gastfamilie ein offenes Ohr für mich hatte. Bei Problemen oder Missverständnissen nützt es nichts, die eigenen Gefühle zurückzuhalten.
Ich kann von mir behaupten, fast jede Art von Emotion in Québec gelebt zu haben: Ich war traurig, hatte Heimweh und wurde krank; erschrak mich vor etwas neuem, war wütend auf Freunde oder Familie, aber ich war auch glücklich, euphorisch, zufrieden mit mir und meinem Umfeld… Und ich war vor allem eins: Stolz auf mich, diesen Schritt gemacht zu haben und stolz, die Zeit so gut verbracht zu haben.
Ich denke das kann jede und jeder sein, der einmal 3, 6 oder 12 Monate in einem fremden Land, bei einer fremden Familie verbracht hat.
Heute ist mein Abflug 2 Jahre her. Ich vermisse Québec, die Landschaften, die Leute, das Leben dort. Ich halte Kontakt zu meinen dortigen Freunden, war im April noch einmal zu Besuch für 2 Wochen. Der nächste Flug (im Dezember) ist schon gebucht. Dieses kleine Fleckchen Land hat nun viele positive Attribute auf meiner persönlichen Weltkarte. Québec ist ein Teil von meiner ganz persönlichen Welt geworden und wird es vermutlich immer bleiben.