Ende August hieß es: „Hallo England!“. Es war merkwürdig, beim Abschied zu wissen, dass ich diesmal länger weg sein würde. Auch wenn ich darüber beim Abflug noch traurig war, konnte ich es nach der Landung und der vierstündigen Busfahrt vom Flughafen kaum erwarten, endlich mein neues Zuhause kennen zu lernen. Als meine Gastmutter mich vom Busbahnhof in Torquay abholte, wusste ich, dass es jetzt kein Zurück mehr geben würde, doch das wollte ich auch gar nicht. Ich wollte neue Menschen kennenlernen, neue Erfahrungen sammeln und die Dinge auf mich zukommen lassen. Angekommen in meinem neuen Zuhause lernte ich gleich meinen Gastvater, der genau wie meine Gastmutter total sympathisch war, und meinen Gastbruder kennen. Mein Gastbruder war 19 Jahre alt, kam aus Macao und nahm sich vor, seinen Abschluss in England zu machen. Ich bekam ihn also nicht so häufig zu sehen, weil er lernen musste. Im Gegensatz zu ihm war ich so gut wie jedes Wochenende unterwegs, um mir die Umgebung von Torquay anzuschauen oder auch mal shoppen zu gehen. Ich wurde echt überrascht vom Wetter, da es nur selten richtig stark regnete oder windig war. Meistens schien die Sonne und die Gegend an der südwestlichen, englischen Küste wird wirklich nicht umsonst „Englische Riviera“ genannt. Verglichen mit den Bewohnern des Küstenortes genoss ich jeden Tag das Geschrei der Möwen, dass ich von zu Hause nicht gewohnt war.
Natürlich wusste ich, dass ich diesen Ort, der perfekt für mich schien, am 20. Dezember wieder verlassen würde. Perfekt warum? Perfekt, weil ich mich mit meinen Gasteltern auf Anhieb verstand, schon nach kurzer Zeit Freundinnen in der Schule fand und natürlich, weil ich meine Sprachkenntnisse verbessern konnte. Meiner Meinung nach ist der Schlüssel zu einem unvergesslichen Auslandsaufenthalt, dass man auf die Menschen zugeht und von selbst ein Gespräch anfängt. Meine Schwester, die mit 16 Jahren ebenfalls einige Monate im Ausland verbrachte, gab mir den Tipp, bis drei zu zählen, wenn ich mich nicht auf Anhieb traute etwas zu sagen. Das klingt banal, doch hilft es echt, denn was hatte ich schon zu verlieren? Wenn ich jetzt daran zurückdenke, kann ich mich gar nicht mehr daran erinnern nicht dazu zu gehören, alle waren nett zu mir, sowohl Schüler als auch Lehrer.
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sich die Schulsysteme komplett unterscheiden. In England gibt es Schulstunden, die auch wirklich eine Zeitstunde lang sind, dafür überwiegend Einzel- und keine Doppelstunden. Die Klingel, die ich hier nur aus der Grundschule kenne, erinnert die Schüler schon fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn daran, den Raum aufzusuchen. Wer mit dem zweiten Klingeln erschien, das den Start der Stunde ankündigt, galt zu meiner Verwunderung schon als spät und wurde ermahnt. Ermahnungen gab es an der Schule jeden Tag und zwar zu Hauf. Grund dafür war die Schuluniform, die jeder Schüler perfekt zu tragen hatte. Sie repräsentiert die Schule, weshalb auch der oberste Knopf der Bluse geschlossen sein musste, der Rock nicht zu kurz sein durfte und am Wichtigsten war, dass die Ärmel des Blazers nicht hochgekrempelt wurden. Mir machte es Spaß, diese Kleiderordnung zu befolgen und ich fand es aufregend, mit dem Tragen der Schuluniform direkt als Teil der Community zu gelten.
Nach Schulschluss konnten die Schüler selbst entscheiden, ob sie noch für eine weitere Stunde in der Schule blieben, um den behandelten Stoff mit dem jeweiligen Fachlehrer zu wiederholen. Dieses Angebot der Lehrer überraschte mich sehr, weil ich so etwas aus Deutschland bis heute nicht kenne, was daran liegt, dass es hier ja eher üblich ist, sich privat einen Nachhilfelehrer zu organisieren. Anders geregelt wurde ebenfalls die Verteilung der Klassenzimmer, denn Klassenzimmer gab es nicht. Jeder Lehrer unterrichtete ein Fach und hatte seinen eigenen Raum, der mit dem entsprechenden Material ausgestattet wurde. Die Schüler hatten sich also nach dem Ende einer Stunde zum Raum des anderen Lehrers zu begeben. Ich brauchte eine Woche, bis ich das System verstand, aber dann erschien ich immer im richtigen Raum ohne jemanden nach dem Weg zu fragen.
Da ich nicht ab halb fünf in meinem Zimmer sitzen wollte, habe ich mich im Fitnesscenter gleich neben der Schule angemeldet. Schon bei meinem ersten Besuch dort traf ich einige Leute aus meinem Jahrgang, sodass es nicht langweilig wurde. Von da an ging ich regelmäßig zum Sport, weil es mir auch dabei half, die Freundschaften aus der Schule zu festigen. Außerdem konnte ich durch die Bewegung die 3kg, die ich nach 2 Monaten zugenommen hatte, locker wieder abtrainieren.
Meine Gastmutter war nämlich eine hervorragende Köchin und tischte jeden Abend großartiges Essen auf. Das Highlight am Sonntagabend war ihr selbstgemachter Pudding. Mittags habe ich mir unter der Woche ein Sandwich oder eine Box Nudeln in der Schulcafeteria gekauft oder auch mal ein Brötchen aus dem Supermarkt gegessen.
Die Tage, Wochen und schließlich auch Monate vergingen und plötzlich war er da: der Tag der Abreise. Einerseits konnte ich es gar nicht abwarten meine Familie und Freunde wieder zusehen, andererseits wusste ich, dass ich mein englisches Leben so wie ich es zu dem Zeitpunkt führte, nie zurückbekommen würde. Trotzdem war mir schon lange Zeit, bevor ich nach Deutschland zurückflog, bewusst, dass ich irgendwann einmal zu Besuch wiederkommen würde.
Ich bereue nicht, dass ich aufgrund meiner Abwesenheit in Deutschland die 10. Klasse des Gymnasialzweiges wiederholen muss. Die Zeit, die ich in England erlebt habe, war es definitiv wert und ich kann allen Schülern, die die Chance bekommen, ins Ausland zu gehen, nur raten sie zu ergreifen.