Am 1. September ging das große Abenteuer für mich los. Dass ich meine Familie und meine Freunde in Deutschland fast ein Jahr lang nicht sehen würde, realisierte ich erst, als ich schon im Flugzeug nach Oregon saß. Ich hatte das Flugzeug mit gemischten Gefühlen betreten. Einerseits war mir bewusst, dass ich meine Lieben in Deutschland bestimmt vermissen würde, doch auf der anderen Seite überwältigte mich ein Gefühl von Abenteuerlust und von Neugier auf ein Jahr voller neuer Erfahrungen in einem mir damals fremden Land. Damals wusste ich noch nicht, dass das, was vor mir lag, das beste Jahr meines ganzen bisherigen Lebens werden würde und dass die Erfahrungen, die ich machen würde, und die Menschen, denen ich begegnen würde, Spuren und Erinnerungen in meinem Leben hinterlassen würden, die unglaublich wertvoll und unbezahlbar für mich sind.
Die Familie, bei der ich gewohnt habe, hat mich von Anfang an aufgenommen und geliebt, als wäre ich ihre eigene Tochter. Sie hatte drei ältere Söhne, von denen allerdings nur noch einer zuhause lebte, und nahm außerdem ein Mädchen aus China auf, wodurch ich gleich zwei Kulturen kennenlernte. Ich habe mich vom ersten Tag an bis zum letzten sehr gut mit meiner Gastfamilie verstanden und sie in mein Herz geschlossen, genauso wie sie mich. Sie haben sich sehr bemüht, mir eine bestmögliche Erfahrung in Oregon zu bieten und haben viel mit mir unternommen. Sie zeigten mir, wie vielfältig die Landschaft in Oregon ist. So findet man im Norden Schnee und hohe Berge, im Osten eine wüstenähnliche Landschaft, im Westen erreichte man von Corvallis aus innerhalb einer Stunde den Pazifik und im Süden fand man eine blühende grüne Landschaft vor. Eigentlich ist in Oregon für jeden etwas dabei, was ihn reizt, ob nun Skifahren, surfen oder einfach nur faulenzen am Strand oder auf den Wiesen. Meine Gastfamilie ist mit mir sehr oft wandern gegangen, was mir sehr viel Spaß gemacht hat. Außerdem fuhren sie mit mir und meinen Freunden in Städte, die außerhalb Oregons lagen. Zum Beispiel nach Seattle (Washington). Auch nahmen sie mich nach Vancouver (Kanada), und fuhren mehrmals mit mir und meiner chinesischen Gastschwester Alice nach Kalifornien, wo wir eine superschöne Zeit in Disneyland, Hollywood, Universal Studios (alles in L.A.) und in San Francisco verbrachten.
Thanksgiving haben wir traditional amerikanisch mit Truthahn und Football gucken gefeiert und sind zu den Verwandten meiner Gastfamilie gefahren. Auch die Verwandtschaft hat mich und meine Gastschwester mit offenen Armen als normale Familienmitglieder aufgenommen. An Weihnachten hatte ich das erste Mal ein bisschen Heimweh, doch das ging auch schnell vorbei, als die Bescherung mit den „Stockings“ losging, bei denen man einen großen Socken für jeden an den Kamin hängt, der mit kleinen Geschenken gefüllt wird. Allgemein habe ich Weihnachten in Amerika anders verbracht, als ich es von Deutschland aus gewohnt war. Zwar ist es in beiden Kulturen ein Fest, das man mit der Familie feiert, doch die amerikanische Art, die Häuser mit Lichterketten in allen möglichen Farben und Santa Claus mit seinen Rentieren auf dem Dach zu schmücken weicht doch sehr von der bescheidenen deutschen Art ab, von weißen Lichterketten Gebrauch zu machen, und das nur an Buchsbäumen. Was ich besser finde, kann ich nicht sagen, ich finde eine Mischung aus beiden wäre ganz gut!
Dann gibt es noch die große Rolle der Kirche im Leben vieler Amerikaner, über die ich gerne etwas erzählen möchte. Meine Gasteltern waren, wie die meisten Amerikaner auch, Christen. Jeden Sonntag ging ich mit ihnen zusammen in die Kirche, wobei ich in einen anderen Gottesdienst ging als sie, nämlich in den „High School Church Service“, wo ausschließlich High School Schüler hingingen, auch einige der Santiam Christian Schüler. Kirche in den USA unterscheidet sich erheblich von den Gottesdiensten, die einem in Deutschland geboten werden. Ich habe jeden Gottesdienst als eine „fette Party“ erlebt, bei der eine Band spielt und alle singen und in guter Stimmung sind. Anschließend spricht ein Pastor zu den Menschen, der jedoch in Jeans und T-Shirt gekleidet ist und kein Theologiestudium benötigt.
Und jetzt mal zu meinem Leben an der High School: Ich ging auf die Santiam Christian High School in Corvallis, meiner Meinung nach die tollste Schule, die man sich nur vorstellen kann. Mit einer Schülerzahl von knapp 900 Schülern lag Santiam ungefähr im Durchschnitt. Eine derartige Atmosphäre, wie ich sie an dieser Schule erfahren habe, hätte ich mir vorher nie ausmalen können. Jeder behandelte jeden mit unglaublich viel Respekt, niemand war ein Außenseiter, weil jeder mit in die „große Familie“ integriert wurde und das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern war um Welten besser, als man es von deutschen Schulen kennt. Wie man sich jetzt vielleicht schon denken kann, hatte ich überhaupt keine Probleme, Anschluss zu finden. Ich wurde gleich am ersten Schultag von vielen Leuten angesprochen und gefragt, ob ich mit ihnen etwas unternehmen möchte oder mit ihnen beim Mittagessen sitzen möchte. Dadurch, dass ich immer zusagte, wenn mich Schüler zu etwas einluden, hatte ich sofort nach der ersten Woche einen Freundeskreis. Eine weitere Hilfe, Freunde zu finden, ist es, wenn man einem Schulsportteam beitritt. Ich habe im Herbst Fußball gespielt und im Frühling Tennis, was mir ungemein viel geholfen hat, neue Kontakte zu knüpfen. Ich kann nur jedem empfehlen sich schulisch in Sportarten oder AGs zu engagieren.
Von der Schule aus unternahmen wir viele Ausflüge und organisierten Partys und andere Veranstaltungen. Wir hatten zweimal „Prom“, was eine tolle Erfahrung für mich war. Im Februar gab es bei uns eine Veranstaltung zum Ende der Basketballsaison, die sich „Court of Hearts“ nannte und dem typisch amerikanischen „Homecoming“ gleicht, bei dem in jeder Jahrgangsstufe ein Prince und eine Princess gewählt werden. Ich durfte die wahnsinnig tolle Erfahrung machen als die Court of Hearts Princess von den Zehntklässlern gewählt zu werden und in einem schicken Kleid mit Krone aufzutreten. Es war eines der besten Erlebnisse meines ganzen Lebens!
Mein normaler Schulalltag lief in etwa so ab: Die Schule ging jeden Tag von acht bis drei Uhr. Mein Stundenplan war auch jeden Tag derselbe. Meine Fächer waren Health (Gesundheitslehre), Chemie, Spanisch II, Religion, Precalculus (Mathe), World Literature (Englisch), Acapella Choir (Chor) und Study Hall (Zeit, die zum Hausaufgaben machen oder lernen, dient). Es gab neben den Pflichtfächern so viele interessante Fächer, die man wählen konnte (z.B. Ernährungswissenschaften, Theater, Kochen, Band, Fitness…), dass ich mich kaum entscheiden konnte.
Einmal die Woche gab es eine Veranstaltung, die sich „Chapel“ nannte. Es war eine Art Gottesdienst, der damit anfing, dass unsere Band Lieder spielte, zu denen die ganze Schule sang. Meistens wurde ein Prediger eingeladen, der uns über Gott und die Welt lehrte, manchmal sprachen jedoch auch Lehrer oder Schüler über Erfahrungen, die sie mit ihren Mitschülern teilen wollten. Ähnlich wie in der Kirche auch, herrschte in Chapel eine tolle Stimmung, die den Schulalltag noch zusätzlich aufpeppte.
Gegen März wurde mir bewusst, dass ich nur noch drei Monate hatte, die ich mit meiner Familie und meinen Freunden verbringen konnte. Ich hatte in dem vergangen Schuljahr so viele Menschen kennengelernt, mit denen ich enge Beziehungen aufgebaut hatte, die ich nicht verlieren wollte. Ich beschloss die restlichen Wochen, die mir noch in Oregon blieben, ausgiebig zu nutzen und unternahm vieles mit meinen besten Freunden, wie shoppen gehen, Filmeabende zu veranstalten und vieles mehr. Als meine Eltern und mein Bruder aus Deutschland Ende Mai kamen, um mich abzuholen, wusste ich, dass meine tolle Zeit vorbei war. Meine Gastfamilie und meine Freunde organisierten eine Goodbye Party für mich, auf der ich von allen Abschied nehmen musste. Wir hatten viel Spaß, doch am Schluss flossen bei uns allen die Tränen, weil wir nicht wussten, wann wir uns wieder sehen würden.
Ich könnte noch so viel mehr über mein Austauschjahr berichten, doch um es zusammenzufassen: die Menschen, die ich in diesem Jahr kennengelernt habe und die Erfahrungen, die ich machen durfte, haben mich sehr geprägt. Die Erinnerungen, die mir geblieben sind, würde ich für nichts in der Welt eintauschen und ich kann nur jedem, der ein Austauschjahr in Betracht zieht, dazu raten. Nicht jedem wird diese Chance geboten und wenn ihr die Möglichkeit habt, solltet ihr sie unbedingt nutzen! Es wird das beste Jahr eures Lebens sein, und in welchem Staat ihr letztendlich landet ist egal, solange ihr das Beste aus eurem Jahr macht!
Vera Linke